Geschichten, die das Leben schreibt

hebamme

Sophie wurde 1922 geboren. Der Tag wird nicht verraten, auch nicht auf dem Grabstein.* Das ist ein Schutz vor der Plauderfreudigkeit der dörflichen Friedhofsbewacher Friedhofsbesucher. Denn bei ihr stehen zum Geburtstag nicht immer frische Blumen auf dem Grab. “Das würde uns zu sehr stressen. Und darum geht es auch gar nicht”,  sagt mir ihre schriftlich zur Grabpflege verpflichtete Tochter. Aber den Beruf ihrer Mutter hat sie auf den Grabstein schreiben lassen: Hebamme. Die letzten Jahre war die Mutter dement und lebte in einem Pflegeheim. Sie ging leicht hinüber, ein Hauch nur war ihr letztes Ausatmen.

Kürzlich hat mir die Tochter diese berührende Geschichte erzählt:

Wochen nach der Beerdigung ruft eine Frau bei ihr an. Es ist eine Mitarbeiterin des Pflegeheimes, in dem Sophie längere Zeit lebte und in dem sie starb. Sie war zugegen, als die alte Frau den Rest ihres Lebens aushauchte. Sie erzählt von einem Besuch bei ihrer eigenen Mutter, mit der sie über das Sterben einer alten Frau an ihrem Arbeitsplatz sprach, einer Hebamme. Es schien ihr wohl schwer zu fallen die zahlreichen Todesfälle zu verkraften. Diese Mutter erinnerte sich an den Namen. Sophie hatte sie entbunden. Das Kind von damals begleitet die Hebamme von damals beim Sterben. Der erste und der letzte Atemzug. Ein Kreis hat sich geschlossen. Und so schien dieses ganz besondere Erlebnis ihrer Berufstätigkeit Sinn und Würde einer Berufung zu schenken.

* Der Familienname steht im Original auf dem Grabstein drauf, den habe ich für die versprochene Anonymität wegretuschiert.

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Autor: Birgit Aurelia Janetzky
Datum: Donnerstag, 22. Oktober 2009 10:20
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